Jean-Marc Reiser
Über den Menschen, den er mit dem Meer verglich, sagt Charles Baudelaire in den Fleurs du Mal: „Niemand hat je deine Abgründe erlotet.“ Ausgenommen Reiser, würde der Jahrhundertdichter heute hinzufügen. In der Tat hat die „Jahrhundertfigur“ (FAZ) der komischen Zeichnerei Frankreichs wie kein zweiter tief in das Wesen der Menschen geschaut und uns seine Einblicke in der versöhnlichen Tonart des Humors vermittelt. Will heißen, im besten Sinne einer List des römischen Satirikers Horaz, die sich heute mehr denn je empfiehlt: „Ridentem dicere verum“ – die Wahrheit mit einem Lachen auszusprechen.
Reiser tat dies zwanzig Jahre lang auf künstlerische Weise. Sein zeichnerisches und erzählerisches Genie schlug sich in Tausenden Karikaturen und Cartoons nieder sowie in Bildgeschichten, die nichts weniger als das Prädikat „Gezeichnete Literatur“ verdienen – zart-poetische Blätter sowohl wie solche von schockierender Drastik, die indessen nie den Bezirk des Humanen verlässt.
Mag sein, dass Reiser über solche Worte gelacht hätte, vielleicht auch hätte er sich, mit einem Achselzucken, gefreut. Er, der aus dem stammt, was man heute „bildungsferne Schichten“ nennt, zeichnete, um davon zu leben. Zunächst vergeblich, über Jahre in der Steilwand der Erfolglosigkeit hängend wie ein Kletterer, der nicht weiterkommt, aber auch nicht aufgeben kann.
Früh verstand er genau hinzusehen, früh lehrte ihn der Instinkt, dass es die Sprache der Linien sein würde, die ihn auf Augenhöhe mit den Großen des Geistes brächte. Auch nach dem Erreichen der ersten Hochebene, der Aufnahme in den Kreis der Zeichner und Autoren der französischen Satireorgane Hara-Kiri und Charlie Hebdo, erlitten seine Unermüdlichkeit und Schaffensfreude keinen Eintrag; im Gegenteil, Können und Einfallsreichtum wuchsen ins nahezu Grenzenlose. Ebenso wie schließlich die Zahl seiner LeserInnen, die Reisers mehr als ein Dutzend Alben füllendes Werk zu Millionen genossen und den Vierzigjährigen, wenige Jahre vor seinem Krebstod, in den Olymp der komischen Zeichnerei katapultierten.
Es ist schwer abzuschätzen, um wie viel Lachen und Haarsträuben, um wie viele witzige Bilder und Geschichten die Welt durch Reisers frühes Ableben gebracht wurde. Fest steht, dass er sie als liebenswürdiger Mensch und schöner Mann verließ. Denn dem Sensenmann gelang es nicht ihn zu zeichnen, wie Reisers Biograph Jean-Marc Parisis schrieb, „er hatte nicht sein Genie.“
Jean-Marc Reiser wurde am 13. April 1941 in Réhon, Lothringen, geboren. Er wuchs vaterlos und überwiegend bei Pflegeeltern auf, ein Schulabschluss blieb ihm verwehrt. Mit fünfzehn arbeitet er als Laufbursche und Gehilfe, mit achtzehn veröffentlicht er erste Zeichnungen. Vier Jahre später gelingt dem Autodidakten der Durchbruch: Er wird Stammzeichner in Hara-Kiri und Charlie Hebdo, den Satiremagazinen seines Mentors Cavanna.
In den 1970er Jahren erscheinen seine ersten Sammelbände, Reiser wird in vielen Blättern gedruckt. Er kreiert seine bekanntesten Figuren, „Schweinepriester“ und „Jeanine“, anfangs der 80er Jahre erreichen seine Bücher Millionenauflagen. Reiser ist ein Star, die seriöse Presse (Nouvel Observateur und Le Monde) öffnet sich ihm. Seine ironischen Reflexe auf die Pornowelle („Fantasien“) machen ihn legendär. Der Folgeband „Sexdoping“ erscheint posthum, nach seinem Krebstod, der ihn am 5. November 1983 ereilt.
Ende der 1980er wird Reiser in Deutschland bekannt. Das Satiremagazin TITANIC druckt ihn, seine Bücher erleben hohe Auflagen. Versuche, sie als jugendgefährdend oder pornographisch zu zensieren, scheitern. Reisers Genie verschaffte der Kunst- und Meinungsfreiheit neue Räume.
Anlässlich seines 70. Geburtstags im Jahr 2011 zeigte das Caricatura Museum Frankfurt die welterste repräsentative und mit rund 240 Originalarbeiten größte Ausstellung des französischen Zeichners Jean-Marc Reiser.
In der Caricatura Museum Edition erschien „VIVE REISER!“, das Begleitheft zur Ausstellung, mit unveröffentlichten Blättern und Skizzen sowie einer Auswahl zeitloser Cartoons und Bildgeschichten aus Reisers gedrucktem Werk.